Seit vier Wochen hat am Berliner Alexanderplatz ein neuer Konsumtempel einer irischen Billigkette seine Tore geöffnet. Seitdem bevölkern immer mehr Teenagermädchen und Teenagermädchenmütter oder deren Mütter und manchmal ganze schwäbische Familienclans, schwedische Klassenfahrtenklassen und sächsische Billigreisebusgruppen den Freiraum zwischen Brunnen, Galeria und Hotel. Wer den U-Bahnhof der Linie U2 frequentieren muss, steckt auch schon mal im Fußgängerstau, wenn die einkaufswilligen Menschenmassen Richtung Primark drängen.
Und weil das Sommerloch Zeit für Vor-Ort-Beobachtungen zulässt, folge ich der Sogwirkung in den Tempel, schiebe mich vorbei an jungen, schwarz gedressten Türstehern, die versuchen, die Kaffeebecherkundschaft vor dem Tempel zum Innehalten zu bewegen. Manchmal gelingt es, manchmal rauscht ein Trupp durch.
Die Kaufwilligen greifen sich im Entree frohgelaunt vom Stapel einen grauen, koffergroßen Einkaufssack, in dem fortan alle Kleider und Shirts, Socken und Plüschteile landen werden, die das Kaufrauschherz und die Kaufrauschbörse begehren. Meine mathematische Hirnhälfte errechnet blitzschnell ein Fassungsvermögen von etwa 45 Litern – weitaus mehr als mein Ferienreisekoffer, mit dem ich normalerweise eine Woche verreise.
„Ich bin Primark“, hielt ich bislang für einen Bonmot der schreibenden Zunft aus den Feuilletons, aber der Satz schallt an mein Ohr, während das Teenagermädchen gierig nach einem bunten Fummel greift und ihn in ihrem Einkaufscontainer versenkt. Dort knüllen sich schon diverse T-Shirts und Blüsken, Slips und Spitzen-BH nebst Plateuaschuhen und Fingernagelequipment.
„Warum kommst du denn nicht?“, maßregelt eine junge Kaufrauschheldin ihre nicht weniger ambitionierte Mutter. „Ich hab dich schon im Blick“, kontert die, während sie das Kleiderangebot scannt und die Hand das Material prüft als gelte es Qualitätsware für die nächste Saison zu finden.
Morgens kurz nach neun Uhr herrscht hier Betriebsamkeit wie sonst auf dem Winterfeldmarkt oder auf der Warschauer Straße. „Das ist noch leer“, klärt mich eine gut gelaunte Verkäuferin Anfang 40 auf. Eine von zirka 800 des Hauses, die so multikulti sind, wie die Klamotten des Ladens niemals. Mit Engelsgeduld hebt die Verkäuferin achtlos fallen gelassene Ware auf, legt sie zusammen und zurück auf die Ablage. „Der Kunde ist König“, sagt sie verständnisvoll, natürlich die Prinzessinnen meinend, während ich mich ungläubig umschaue. Sehen, kreischen, greifen, im Einkaufsnetz versenken – so geht es in allen Ecken. In einer kringelt sich bereits die kilometerlange Schlange vor der Damenumkleide. „Wenn die wüssten, dass es im Untergeschoss bei den Männern viel schneller ginge“, ätzen meine Synapsen wortlos.
Der Bekleidungstempel lockt auch Teenagerjungen und Männer der „Generation Nerd“ an, die freiwillig kommen, keine Frage. Nur kreischen sie nicht so laut, wenn sie nach einer Hose oder Jacke greifen. Oder lassen die Kommentare ihrer Freundinnen stoisch an sich abprallen. Ungeduldig können die Herren der Schöpfung allerdings auch sein, nämlich dann, wenn man direkt vor dem Objekt ihrer Begierde steht und nicht freiwillig beiseite tritt. Auch ihre grauen Tragecontainer sind gut gefüllt. Völlig neues Erlebnis in einer Abteilung für Männerbekleidung. Auf zwei Euro mehr oder weniger kommt es ja nicht an.
T-Shirts von 3,50 Euro auf 1,70 Euro gesenkt, drei weitere Teile wandern in den Sack. Giraffenaufdruck oder Storch – wer kann da widerstehen? Die Frage, ob die Teile eine zweite Wäsche schadlos überstehen, stellt sich nicht. Alles so schön bunt hier! Einmal Schnappi sein, das Krokodil!
Wer nach all dem physischen und psychischen Stress eine der wenigen Sitzecken erwischt, macht vor dem Gang zur Kasse noch einmal Warenschau: Ein Stapel Das-muss-ich-haben, ein Stapel Das darf-auch-noch-sein. Dann werden die Mobile Devices gezückt und der ultimative Kassensturz gemacht. Am Geld mangelt es sowieso nicht – nur am Verstand.
Für wenig Geld viel modischer Tinnef aus reichlich räudigem Material – das ist der Preis. Und der Lohn für den Kaufrausch winkt auch: große, braune Packpapiertüten mit preußischblauer Schrift. PRIMARK in großen Lettern. Das Grauen hat einen Namen.